User Experience – Ilya mit Erfahrung
Seit es die Menschheit gibt, gibt es auch Flüchtlinge. Nach dem zweiten Weltkrieg flüchteten viele deutschstämmige Bürger aus Schlesien und anderen verlorenen Gebieten nach Deutschland. Viele Juden, die noch die Möglichkeit hatten, flüchteten vor der Verfolgung aus Deutschland. Während der Highland Clearances flüchteten Schotten in die Neue Welt. Während des DDR-Regimes flüchteten Deutsche in die Bundesrepublik …
Nun ist die Ukraine in den Fokus der Weltpolitik geraten: Einerseits war sie seit jeher ein Land mit zwei Sprachen – Ukrainisch und Russisch. Andererseits betrachtet Russland die Ukraine als ihr traditionelles Einflussgebiet, wogegen Amerika und der Westen wiederum Chancen für sich ausrechneten, die Ukraine immer stärker in den westlichen Bündnissen zu verankern. Ein Interessenskonflikt der Großmächte, der vorhandene Spannungen erhitzte. Die Entladung dieser Spannung geschah durch die Annexion der Krim durch Russland in 2014 und durch die gleichzeitige Abspaltung zweier Gebiete im Donbas, der Ostukraine. Wie auch immer man die Politik hier betrachtet: Leidtragende sind letztendlich immer die Menschen.
So fanden sich Ilya und seine Familie – seine Frau Anna und die Zwillinge Mariya und Yeva – plötzlich inmitten eines Krieges wieder, den wir uns hier gar nicht vorstellen können und wollen. In dieser Not entschieden sie sich, zu fliehen: Er und seine Familie verließen ihre Heimat. Eine schwere Entscheidung. Ihr Weg führte die Familie Chebanenko erst nach Weißrussland – erst dann reisten sie über Griechenland nach Deutschland …
Was ist in Deinem Umfeld passiert?
„In meiner Heimatstadt sind Bomben gefallen (Dauer-Bombardement) und Minen wurden gelegt. Mein Onkel wurde eines Tages getötet. Mein Vater hatte in seinem Taxi Gäste, keine Einheimische. Die haben ihn bedroht und in seinem Fahrzeug mit einer Pistole geschossen. Die Kugel steckt heute noch im Lenkrad. Es war knapp!“
Warum hast Du Deine Heimat verlassen?
„Es ist einfach zu viel passiert. Unsere Kinder und meine Frau haben immer mehr Angst bekommen. In der Ukraine gab es seit 2014 keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. Durch die Bombeneinschläge sind nahezu alle Scheiben in den Gebäuden zerbrochen. Die Einrichtungen leiden durch das eindringende Wasser. Die Infrastruktur ist zerstört worden. Straßen sind kaputt. Die Industrie und das ganze Geschäftsleben ist den Bach herunter gegangen. Wir konnten einfach nicht mehr.“
Ilya, was habt Ihr dann gemacht?
„In der Ukraine ist die Bevölkerung sehr gespalten – ein tiefer Graben führt durch die Gesellschaft. So hat man mich in anderen Teilen der Ukraine gefragt, was ich hier wolle. Ich solle gefälligst im Donbas für die Ukraine kämpfen und mich um mein Volk kümmern. – Dort müsste ich dann aber gegen meine eigene Verwandtschaft kämpfen – eine wahnsinnige Situation … Für uns lag es auf der Hand, dass wir nicht in der Ukraine bleiben können. Dort ist Krieg. In Weißrussland, unserem ersten Ziel, waren die Leute relativ neutral. Aber dort konnten wir auch nicht bleiben und mussten eine andere Lösung finden. Deutschland war und ist letztendlich für uns eine echte Option gewesen, da hier ein Rechtsstaat ist, der Meinungsfreiheit, Friede und Stabilität bietet.“
Hast Du hier schon Menschen kennengelernt?
„Ja, neben der Ukrainerin Jelena, die schon seit vielen Jahren in Deutschland lebt, sind das Jürgen Forscht und meine Nachbarn – gute Freunde, die uns mit Rat und Tat zur Seite standen. Wir wurden sehr nett aufgenommen und ich war mir schnell sicher, dass man meiner Familie und mir hier helfen könnte. Aber es war trotzdem alles sehr schwer und es ist es teilweise ist es immernoch. Es wird einem ja nichts geschenkt. Zuerst wurden wir als Flüchtlinge registriert. Nach einiger Zeit hat meine Frau bei Kaeser Kompressoren nach einem erfolgreichen Praktikum eine Anstellung bekommen. Später habe ich bei Logan Five ein Praktikum aufnehmen dürfen.“
Das wurde eine Festanstellung?
„Ich habe mich gefreut. Am Ende des Praktikums hat mich Frank Heumann mit ins Team aufgenommen. Aber ich bringe auch viel Erfahrung mit. In Donezk habe ich bereits viel Erfahrung mit User Interface und User Experience gesammelt. Ich war Geschäftsführer einer Werbeagentur, hatte also bereits Berührung mit allem, was auch in der Agentur Logan Five täglich gelebt wird.“
Aber Du musstest Deutschland erneut verlassen?
„Ja. Wir möchten in Deutschland bleiben. Hier haben meine Frau Anna und ich jetzt feste Anstellungen. Das BAMF hat allerdings entschieden, dass wir zurück in die Ukraine müssen, weil der Flüchtlingsstatus nicht anerkannt worden ist. Und zwar mussten in der Ukraine ordentliche Ausreisepapiere erstellt werden, damit wir Visa bekommen. Für drei Monate waren wir also wieder in der Ukraine. Dort ist dann alles gutgegangen: Wir haben alle Unterlagen für die deutschen Behörden bekommen. Damit haben wir den Flüchtlingsstatus verlassen und haben echte Visa erhalten. Heute haben wir eine offizielle Aufenthaltsberechtigung für Deutschland. Das Schönste ist aber, dass wir gleich nach der Rückfahrt wieder mit der Arbeit anfangen durften. Unsere Zwillinge sind im Kindergarten, meine Frau arbeitet bei Kaeser Kompressoren und ich fühle mich immer wohler hier in der Werbeagentur Logan Five.“
Und jetzt lernst Du gutes Deutsch und vermittelst Deine Erfahrungen?
„Bei Logan Five entstehen ganz tolle Projekte für Kunden aus Deutschland. Gerade für Webshops, für Webseiten, Webentwicklungen und Apps kann ich meine Erfahrung einbringen. Die Ergonomie der Sache, die Conversion als Erfolgskontrolle der gezeigten Maßnahmen ist das, für was ich mich interessiere. Und mein Deutsch wird Schritt für Schritt ein klein wenig besser. Ich hoffe, auch mein Englisch zu verbessern. Und meine eigene Sprache vergesse ich ja selbstverständlich auch nicht. Hier besteht in Zukunft die Möglichkeit, durch die Mehrsprachigkeit eine Brückenfunktion einnehmen zu können.“
Eines Tages rief mich Jürgen Forscht aus dem Landratsamt zu dem Thema an: „Du Frank, ich hätte da jemanden, der zu Euch passt!“ meinte er und ich konnte nicht abschätzen, um wen es ging. „Ja, wir haben hier eine ganz nette Flüchtlingsfamilie aus Donezk. Vielleicht bekommen wir ja eine Brücke gebaut?“
Ein Kurzinterview von Heiko Hartmann
Wie stehst Du dazu?
Frank Heumann: „Ich kenne Jürgen Forscht schon ,ewig‘. Deswegen, und weil wir auch als Unternehmen eine eigene Geschichte haben, habe ich versucht, gleich mit anzupacken. Ilya war zuerst als Praktikant bei uns. Dann haben wir erfahren, was er persönlich mit seiner Familie durchgemacht hat. Ich glaube, dass wir nicht immer nur an Erfolg und Geld denken dürfen. Klar ist das für ein Unternehmen wichtig, aber es gibt auch den unverzichtbaren Bereich der Menschlichkeit.
Die vergangenen drei Jahre waren für uns als Agentur äußerst schwer. Wir mussten den Tod eines wichtigen Geschäftspartners verkraften. Mehrere Unternehmen verabschiedeten sich aus dem Business (Insolvenzen). Es fielen Entscheidungen, dass Unternehmen es auch mit einer eigenen Werbeabteilung ausprobieren wollten. Am Ende dieser Entwicklung mussten wir über einen Zeitraum von zwei Jahren insgesamt acht wertgeschätzte Mitarbeiter abgeben.“
Was für ein Impuls!
„Da hast du recht. Aber Du hast es selbst miterlebt. Wir mussten weniger werden, um uns zu verwandeln. Waren wir früher stark verlagsgebunden, sind wir heute Ansprechpartner für die digitale Transformation. Dank aller Mitarbeiter haben wir es geschafft, neue Ziele aufzubauen. Insbesondere durch die Wissbegierde von Frank Sperling und Marcel Reimann sind wir tief in die digitale Transformation eingebunden.“
Und dann kam Ilya?
„Ilya steht für den Neuanfang – die Neuausrichtung des Unternehmens. Jetzt können wir sagen: Alle hier haben alles richtig gemacht. Wir liegen mit den Segeln wieder genau im richtigen Wind und versorgen unsere Kunden mit den neuesten Techniken wie Augmented Reality und Virtual Reality. Ilya hat exakt die richtige Ausbildung für die Bereiche, die wir ausbauen wollen. So werden aus fünf Loganizern wieder sechs. Mein Vater war sehr sozial eingestellt. Ich möchte, wenn ich das schaffe, ein wenig von seinen Gedanken und seiner Kraft erhalten. Leider ist er Ende März dieses Jahres verstorben.“
Wie lautet Dein Fazit?
„Mir gefällt die Diskussion in der Welt nicht. Jeder denkt an sich oder verschließt sich vor der Allgemeinheit. Die Werte, die von der Nachkriegsgeneration auf uns übertragen wurden, spielen bei vielen anscheinend keine Rolle mehr. Einige Menschen vergessen Menschlichkeit, differenzieren nicht mehr, pauschalisieren und lassen sich von neuen alten Verführern ablenken. Dabei ist es so einfach, etwas Gutes zu tun. Wir haben als Menschheit insgesamt eine Verantwortung für die nachkommenden Generationen. Zieht man religiöse und politische Einstellungen ab, haben wir es immer mit Menschen zu tun. Und wenn wir können, dann sollten wir helfen. Das bringt uns immer wieder etwas Positives zurück.
Ich freue mich mit der Familie Chebanenko, dass alles geklappt hat. Und ich freue mich auch darüber, wenn anderen Menschen und Familien die Integration gelingt.“